Grenze Siret

Ukraine Hilfe – ganz konkret (Bericht)

Vier Tage im Zeichen der humanitären Hilfe mit unterwegs (meine Gefühle dabei)

Tag 1 und 2

Was mit acht Menschen und vier Transportern am ersten März-Wochenende beginnt, nimmt  bereits Mitte des Monats seine Fortsetzung. Dieses Mal machen sich 17 Menschen, zwei Transporter und zwei Doppeldecker-Reisebusse mit Hilfsgütern (medizinisches Material, Kleidung, Lebensmittel und 20 Generatoren) auf den Weg an die rumänisch-ukrainische Grenze nach Siret. „Ukraine Hilfe – ganz konkret“, unter diesem Motto steht erneut eine Aktion im Gesamtwert von über 61.000 Euro um Organisator Philipp Blobel, der mit Unterstützung seines Lions Club Augsburg Elias Holl und Rotary Friedberg sowie Sponsoren (etwa Hörmann Reisen, die zwei Doppeldecker Busse stellen) das Ganze stemmt und aufbricht, um auch wieder Menschen aus dem Kriegsgebiet zu evakuieren und sicher nach Augsburg zu bringen. Dafür reisen dieses Mal auch neben Dominic Jefferson und Fotograf Herbert Gairhos, ein medizinisches Team um den Augsburger Uniklinik Oberarzt Henryk Pich mit den beiden Medizin-Studenten Christoph West und Bruno Brito da Rocha aus Gießen sowie Bernadeta Brzoza (OP-Fachkrankenschwester am Campus Süd) und Kinderkrankenschwester Natalie Bartsch, den beiden Übersetzern Yulianna und Dimitrij und den fünf Busfahrern (Ulrich Deininger , Robert Pfister, Martin Schrall , Hans- Peter Ramold und Siegfried Grimm, zu denen in Rumänien noch Mihoci Laurentiu stösst) mit.

Alle eint der Wille, etwas zu tun gegen diesen Irrsinn, Putins Krieg, der seit wenigen Wochen Europa und die Welt in Atem hält.

Ich kenne Philipp jetzt gerade mal seit knapp zwei Wochen, doch ganz schnell habe ich beschlossen, bei dieser Fahrt mit zu kommen. Meine eigene Hilflosigkeit, Überforderung und die Frage, was kann ich eigentlich konkret tun, sind mein Antrieb. Zu berichten, das ist mein Beruf, aber wenigstens ein klein wenig auch selbst mit anpacken zu können, das treibt mich an. Doch was mich erwartet, außer erst einmal eine über 20-stündige Fahrt im Transporter, keine Ahnung!

An der Grenze

Der Konvoi startet in Augsburg um acht Uhr morgens am Donnerstag und fährt über Österreich, Ungarn nach Rumänien. Tags darauf, sechs Uhr morgens erreichen die Transporter schließlich die Stadt Suceava: Nach einem kurzen Frühstück, geht es zum Entladen der Busse in einen LKW, der die Hilfsgüter direkt in die Ukraine bringen wird. Anschließend begibt sich das medizinische Team direkt an die Grenze in Siret, um mit einer griechischen Delegation von Doctors of the World Kontakt aufzunehmen. 

Dominic Jefferson und Bruno Brito da Rocha treffen sich währenddessen mit der Kontaktperson von „Help Ukraine Romania“ und den rumänischen Pompierii (Feuerwehr und Katastrophenschutz) um abzuklären, wen man tags darauf mit auf die Reise nach Augsburg nehmen kann. Ein wichtiger Termin, denn es sollten nur Menschen nach Deutschland gebracht werden, die wirklich hierher wollen. 97 werden es am Ende sein, die am Samstag die Grenze überqueren werden und der Rest stammt aus den rumänischen Camps im Grenzgebiet.

Zudem wird die Augsburger Delegation von einer Polizistin auf Seriosität überprüft, zu viele tummeln sich mittlerweile nämlich an der Grenze, die Profit aus dem Leid der Geflüchteten schlagen wollen. 

Jetzt also werde ich gleich die Situation am Grenzübergang live erleben, die ich bis dato nur aus TV-Beiträgen und den Schilderungen von Philipp kenne. Je näher wir kommen, umso angespannter werde ich. Was erwartet mich hier, schließlich beginnt direkt dahinter die Ukraine, in der Krieg ist. Die Front ist zwar immer noch hunderte von Kilometer entfernt, dennoch.

Die Zufahrtstrasse zur Grenze Siret ist mehrere hundert Meter lang, gesäumt von zahlreichen Zelten verschiedenster einheimischer und internationaler Hilfsorganisationen, in denen die ankommenden Flüchtlinge mit Essen, Kleidung und weiteren wichtigen Dingen erst versorgt werden. Die rumänische Feuerwehr ist vor Ort, Polizei und weltweite Kamerateams agieren links und rechts der Strasse, auf der abwechselnd Autos und Fußgänger mit kleinen Rollkoffern oder Taschen unterwegs sind.  Überwiegend Frauen und Kinder werden von den Hilfskräften versorgt, die zum Teil deren Gepäck und die Kleinkinder tragen und zu den Zelten oder gleich zu Kleinbussen bringen, mit denen sie weiter in die Flüchtlings-Camps oder zum wartenden Reisebusse nach ganz Europa transportiert werden. 

Es fühlt sich alles komplett surreal an, ein Gefühl, dass ich die nächsten Stunden und Tage  noch mehrfach haben werde. Es könnte auch ein Jahrmarkt sein, wenn man auf den ersten Blick die vielen Stände mit den „Waren“ sieht. Wenn da nicht die Gesichter der Entgegenkommenden wären, die zwar für mich eine unglaubliche Stärke, aber zugleich die Strapazen der letzten Tage, Angst und Ungewissheit widerspiegeln. Schnell sind meine eigenen vermeintlich körperlichen Anstrengungen der letzten Stunden vergessen, ich komme aus der Sicherheit, ich werde in mein eigenes Heim zurück kehren, die Menschen, denen ich die nächsten Tage begegnen werde, nicht. Dieser Gedanke lässt mich ab jetzt nicht mehr los. Ein Zelt von „Save the children“, deren Volunteers den Müttern mit ihren Kindern Teddys, Spielsachen, Babynahrung, Windeln etc. mitgeben und ein weiteres der örtlichen Tierschutzorganisation Casa Lui Patrocle, die Tiernahrung und Equipment verteilen und Ansprechpartner für alle Fragen um die mitgebrachten Vierbeiner und Co. sind, erwecken meine Aufmerksamkeit. Es ist der Moment, wo ich die volle Wucht, was hier gerade passiert, ab bekomme. Diese unglaubliche Hilfsbereitschaft der rumänischen Helfer, aber auch zahlreicher Menschen aus der ganzen Welt – da sind Raz aus Israel, der als Clown verkleidet ein Lächeln in die Gesichter der Kinder und Mütter zaubert, und mit seiner Partnerin Alina aus Spanien anreiste, um zu helfen, oder zwei Männer aus den USA – berührt mich. Ich bin so dankbar um diese Menschen, die mit einer Power zum einen vermitteln: Nein, wir lassen hier niemanden allein! Und zum anderen durch ihre unglaublich sensible Art, wie sie die Menschen direkt an der Grenze entgegen nehmen, ihnen Gepäck oder Kleinkinder abnehmen und das letzte , was diese Menschen jetzt noch besitzen, behutsam entweder in Versorgungszelte oder zu den Kleintransporten und Bussen bringen. Ich bin überwältigt, das mit erleben zu dürfen. 

Fahrt in die Ukraine

Ulrich Klose von RTL und n-t wird auf die Gruppe aufmerksam und ist angetan von der perfekt organisierten Mission, eine Live-Schalte wird kurzerhand umgesetzt. Doch langsam wird es Zeit für Missionsleiter Philipp Blobel, Arzt Henryk Pich und Fotograf Herbert Gairhos: sie wollen die Grenze passieren und ins etwa 30 Kilometer entfernte ukrainische Tschernowitz fahren. Dort steht ein Besuch des Regionalkrankenhauses, eines Hilfsgüter-Verteilerzentrums und beim Gouverneur der Region Tscherniwzi, Serhiy Dmytrovych Osachuk an. 

Gezielt soll hier der konkrete Bedarf ermittelt werden. Der Ukrainer Roman Yavorskyy, der 2004 für ein halbes Jahr zum Studium in Augsburg war, wartet direkt hinter der Grenze, um die Gruppe in die Hauptstadt der Bukowina zu bringen. Seine eigene Familie, Frau und zwei Kinder (5 und 10), sind in Österreich in Sicherheit.  

Zuhause war meine Antwort auf die Frage, ob ich zu diesem Termin mitkommen wolle, ohne Zögern „Ja“. Schließlich ist die Front noch viele hundert Kilometer entfernt und es geht „nur“ in die Westukraine. Doch Aussagen machen die Runde, dass es wohl gezielte Entführungen vom russischen Geheimdienst geben könnte und es wird geraten, im Rucksack so viel mitzunehmen, dass man auch ein paar Tage vor Ort durchkommen könnte. Später soll ich noch erfahren, dass es in den letzten Tagen in Tschernowitz immer wieder Luftalarm gegeben hat. Ein mulmiges Gefühl. Nach einem kurzen Durchatmen, mach ich mich zu Fuß mit den Männern durchs Niemandsland auf zum ukrainischen Grenzposten. Es ist eigenartig, während uns Flüchtende entgegenkommen, Männer sich ruhig von ihren Familien verabschieden, werden wir in das Land hineinfahren, das nur wenige Wochen zuvor von Russland überfallen wurde.

Die erste Station in Tschernowitz führt die Augsburger zum Regionalkrankenhaus. Hier treffen sie auf Oberarzt Serhii Brodovskiy, die medizinische Leiterin der territorialen Verteidigung Oksana Panasiuk (sie war bereits 2014 in der Ostukraine aktiv) und Valentyn Vasilyevich Vasylov, den Leiter der Traumatologie. Eindrücklich schildern die Mediziner ihrem Kollegen vom Uniklinikum bei der Führung durch das Haus, was dringend für die Behandlung u.a. der verwundeten Soldaten benötigt wird, die aus den Kampfgebieten hierher gebracht werden. Der Augsburger Oberarzt möchte sich einsetzten, dass genau das aus der Augsburger Region geliefert werden kann. Weiter geht es durch die über 250.000 Einwohner zählende Stadt, in der alle – noch – ihrem Alltag nachgehen. Die Menschen arbeiten, kaufen ein, trinken Kaffee an Kiosken. Dennoch gibt es auch in der Stadt immer wieder Luftalarm zu den unterschiedlichsten Tageszeiten und der Aufenthalt in Schutzräumen mehrere Stunden nachts über, die aber bei weitem nicht ausreichen, gehört durchaus zum Leben der Tschernowitzer. Wie Roman erzählt, gehen die Kinder dennoch an darauf folgenden Tagen ganz normal in die Schule. Am Amtssitz des Gouverneurs ist erstmals die Kriegssituation deutlich spür- und sichtbar: Bewaffnete Soldaten vor und im Gebäude, Serhiy Dmytrovych Osachuk selbst empfängt die Gäste im Camouflage-Anzug, sein Büro ist verdunkelt. Der 49-Jährige unterstreicht wie sein Präsident Wolodymyr Selenskyj eindringlich die Wichtigkeit von militärischer Unterstützung. „Wir wollen nicht ins russische Gefängnis zurück, dort waren wir schon, wir wissen, wie es dort geht. Entweder halten wir durch, auch mit internationaler Unterstützung…oder wir werden als Gemeinschaft verschwinden…all die Bemühungen sind derzeit im humanitären Bereich und behandeln Folgen des Krieges…doch es muss mehr gemacht werden, um den Krieg zu stoppen.“  Dass es auch in seiner Region in den nächsten Wochen zu Nahrungsmittel-Knappheit kommen kann, schließt er nicht aus. Nach zwei Stunden endet das beeindruckende Treffen, nachdem sich der Politiker, der vor 30 Jahren erstmals in Augsburg und immer wieder in der Stadt und Umgebung war, sich daher über das Engagement aus Augsburg besonders  freute, sehr emotional verabschiedet: „Augsburg ist eine Stadt, die ich mir vor 30 Jahren ins Herz geschlossen und lieben gelernt habe. Ich weiß wie die Menschen in Augsburg, um Augsburg, in Schwaben sind. Es ist eine weltoffene Stadt, mit vielen Beziehungen und Partnerschaften überall, und die heutigen Augsburger sind international…Wenn man sich an das Bild erinnert wie das Augsburger Rathaus nach den Bombardierungen ausgesehen hat, das erinnert heute an die ukrainischen Städte.“

Vorbei an der Universität, dem Stadttheater, Wohnhäusern, die an die österreichische Geschichte der Stadt erinnern, geht es zum Hilfsgüterzentrum. Hier werden rund um die Uhr von Freiwilligen  mit einer unglaublichen Effizienz u.a. 15 Kilo Säcke für die ganze Ukraine gepackt, mit denen eine Familie drei Tage überleben kann. Nach intensiven Gesprächen mit den Freiwilligen geht es kurz vor Beginn der Ausgangssperre um 20 Uhr wieder zurück an die Grenze, wieder zurück nach Rumänien und für ein paar Stunden zum Schlafen ins Hotel. Nur Arzt Henryk Pich bricht noch einmal auf, um eine Krebspatientin auf ihre Reisetauglichkeit zu untersuchen. Sie soll in einem Privat-Pkw, der sich dem Konvoi anschließen will, nach Deutschland transportiert werden. 

Dieser Aufenthalt in Tschernowitz ist zum einen sehr informativ und steigert meine Bewunderung für die Ukrainer, die völlig gefasst, ob in der Klinik, im Gouverneurs-Sitz oder im Hilfsgüterzentrum routiniert und mit einer so deutlich fühlbaren Kraft ihre Aufgaben erledigen und alles tun, um ihren Landsleuten in den umkämpften Gebieten zu helfen, und das rund um die Uhr. Zum anderen kann ich es kaum ertragen, dass diese Menschen jederzeit auch bombardiert werden, all die Gebäude, zum Teil historisch in Schutt und Asche gelegt werden könnten. Im Krankenhaus, in dem 2001 übrigens die Dialyse-Abteilung durch den Bezirk Schwaben renoviert wurde, und den Rest des Tages zeigt sich in den Begegnungen mit den Menschen, ihrer Haltung, ihren Aussagen, dieser unbeugsame Wille, diesen Kampf, in den sie gezwungen wurden, zu gewinnen. „Slava Ukraini!“ (Ehre der Ukraine) höre ich mehrfach bei den Treffen.  Beim Gouverneur lauschen wir gebannt seinen Schilderungen und Einschätzungen, die natürlich stark politisch geprägt sind. Doch was anderes kann die Ukraine, ihre politische Führung derzeit tun, als massiv, vehement und in aller Deutlichkeit um Hilfe zu bitten, vor allem um militärische? Für Osachuk ist der Weltkrieg nämlich längst da, man sollte sich nicht fürchten, die überwiegende Mehrheit der stärksten Staaten der freien Demokratie dieser Welt haben sich bereits gegen Putin vereinigt. Man könne es nennen wie man wolle, einen hybriden, einen wirtschaftlichen Krieg, am Ende bleibt es ein Krieg, der die ganze Welt in Atem hält. Sein Appell an die Welt, an Deutschland und an die Augsburger am Ende unseres Gespräches, in dem auch dem Gouverneur die unfassbare Tragik dieses Kriegs ins Gesicht geschrieben steht, er mit der Fassung ringt, beschämen mich. Die ganze Reise über macht mich diese Hilflosigkeit einfach nur traurig, weil die meisten von uns zwar humanitär helfen können. Aber die Ursache, den Krieg stoppen, das muss auf einer anderen Ebene geschehen und ist wie wir in diesen Tagen und in all den Jahren an anderen Kriegs- und Krisenorten miterlebt haben komplex, obwohl es so einfach sein könnte. Der Besuch im Hilfsgüterzentrum, die dritte und letzte Station beeindruckt einmal mehr. Mit einfachen Mitteln werden hier für die eingeschlossenen Gebiete und Städte Hilfsgüter zum Weitertransport vorbereitet. Freiwillige arbeiten rund um die Uhr in zwölf Stunden Schichten, wann immer sie können.  

Man lädt uns zu einem Imbiss ein, ich merke allerdings, dass es mich langsam drängt, wieder zurückzufahren, und so bitte ich meine Mitstreiter, die sich angeregt unterhalten, langsam wieder in Richtung Grenze aufzubrechen. Roman fährt uns zurück, als wir uns verabschieden, durchzuckt es mich: ich bin gleich wieder in einem sicheren EU-Staat, er kehrt zurück in eine ungewisse Zukunft, weiß nicht, wann er seine Familie wiedersehen wird. Als wir kurz von einem rumänischen Soldaten angehalten werden, da uns ein Stempel von ukrainischer Seite fehlt, spüre ich wie es ist, wenn Du darauf angewiesen bist, dass Dich ein anderer Mensch eine Grenze überschreiten lässt oder eben nicht. Zwar klärt es sich schnell, doch ich bin völlig aufgewühlt. Das Abendessen, seit dem Morgen und ein paar Cornflakes war für Nahrungsaufnahme keine Zeit, die heiße Dusche und das Hotelbett: ein Geschenk. Schlaf finde ich in dieser Nacht allerdings nicht.